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Drachenwinter – Herz aus Eis

Ein Land in ewigem Winter. Eine Prophezeiung. Ein Drache,

Es gab viele Geschichten, warum die Sommerlande vom Winter heimgesucht wurden. Ein Drache ließ sie mit seinem Atem gefrieren, erzählten die Barden. Valkan, der mächtige Feuerdrache, kehrte heim und fand seine Familie niedermetzelt von Menschen vor. Vor Trauer erstarrte sein Herz zu Eis, und der Atem sandte den weißen Tod über die Welt. Eine andere Legende berichtete vom Kind einer Frau mit flammend rotem Haar, das Erlösung versprach.

Fenja gab nichts auf die Legenden. Von klein auf schor ihre Mutter den Schädel des Mädchens, um die leuchtende Farbe seines Haares zu verbergen. Vater schickte es an Arbeiten für Jungen, um das Geschlecht zu verschleiern. Umsonst. An Fenjas sechzehntem Geburtstag wurde ihr Dorf überfallen. Männer brachten Tod und Unheil. Einer von ihnen erklärte, sein Kind wäre das prophezeite. Er zwang ihr seinen Willen auf, und sie rammte ihm ein Messer in den Bauch, als er unaufmerksam war. Danach floh sie, vorbei an ihren getöteten Eltern. Nur einmal schaute sie über die Schulter zurück. Hinter ihr ging die Siedlung in Flammen auf.

Menschen verdienten keine Erlösung! Sie töteten einander genauso kaltherzig wie die Nachkommen von Valkan. Warum sollte ihnen jemand Mitleid entgegenbringen? Nie wieder wollte sie ihnen begegnen.

Dem Grauen wohnte jedoch ein Wunder inne. Unter ihrem Herzen wuchs ein unschuldiges Kind. Um es vor dem eisigen Tod zu retten, kämpfte sie gegen Erschöpfung und Hunger. Die Erlösung ihres Volkes bedeutete ihr nichts, sein Leben alles. Fenja konnte es nicht für die Tat seines Vaters hassen. Sie hasste niemanden.

Ein Schneesturm beendete ihre Flucht und umarmte sie mit dem Trost des Vergessens. Weit war sie gekommen, ohne die Sonne zu sehen. Umsonst, das erkannte sie nun. Müde setzte sie sich und hielt den gewölbten Leib. Für ihr Kind sang sie eine alte Weise von grünen Wiesen, bunten Schmetterlingen und tirilierenden Vögeln. Nichts, was sie je erlebt hatte. Und doch floss all ihre Liebe in das Wiegenlied.

Ein Stück entfernt lauschte der vor Trauer wahnsinnig gewordene Drache. Die Melodie trug Sehnsucht zu ihm, die Worte erzählten vom Leben, obwohl die Frau gerade starb. Mit letzter Kraft sang sie für ihr ungeborenes Kind.

Valkan erhob sich und folgte der Stimme. Winzig und zerbrochen kauerte Fenja im Schnee, und dennoch weckte sie Zuversicht. Das Lied erinnerte ihn an die eigene Brut, an seine Gefährtin Valeria, an die glücklichen Tage. Sie hätte all das nicht gewollt.

Fenja streckte ihm die Arme entgegen und lächelte. »Schenk mir Frieden. Ich bin ebenso verloren wie du. Menschen haben meine Familie getötet für die Hoffnung auf Erlösung. Sie haben sie nicht verdient!«

Ihre Verzweiflung dauerte Valkan. Ein Flämmchen flackerte in seinem Innern. Menschen mochten sein Mitleid nicht verdienen, diese Frau gewiss.

Das Feuer erwachte. Heiß schoss es durch seine Adern und taute den Eispanzer. Das Drachenherz schlug erneut und schmolz den Schnee ringsum. Drachenmagie breitete sich aus, erfasste Fenja und veränderte sie. Die Kälte wich dem Wunsch nach Leben, das Kind in ihr strampelte. »Ich will nicht zurück zu den Menschen!«

»Und ich will nicht mehr allein sein!«

Ihr Körper dehnte sich. Schwingen sprossen aus dem Rücken. Fenja verwandelte sich in einen Drachen und erhob sich mit Valkan in die Lüfte. Auf dem Weg in die Drachenberge spuckten sie Feuer. Seine Hitze drängte den Winter zurück.



 


© 2023 Sabine Reifenstahl

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