Drachenwinter und Herzfeuer

Geschichten aus der Welt von Mittsommerlegende und Übersinnliche Gefährten
Magie liegt in der Luft – und manchmal auch in einem ersten Kuss.
Willkommen zurück in der Welt von Mittsommerlegende, wo keltische Mythen auf queere Romantik treffen und die Herzen von Wesen aus der Anderswelt aus dem Takt geraten.
Diese Sammlung lädt zu einem Wiedersehen mit alten Bekannten und zum Kennenlernen neuer Freunde ein. Mal zärtlich, mal augenzwinkernd, mal bittersüß – aber immer mit Herz.
Ob Sidhe, Drache oder Gestaltwandler, sie alle lieben. Und ihre Geschichten sind emotional und bezaubernd.
Leseprobe aus »Geschenk des Himmels«
Valerian blickte aufs von einer Brise gekräuselte Wasser und betrachtete sein Spiegelbild: blond, mit gebräunter Haut, muskulös, groß. Die Wellen verzogen die Linien, die Umrisse verschwammen.
Mutlos schloss er die Lider vor der Veränderung und konzentrierte sich auf die derzeitige Gestalt, öffnete das Lederband und befreite das Haar. Der Wind zerrte gierig daran, blies ihm eine breite Strähne ins Gesicht.
Resigniert strich er sie zurück, selbst darin unterschied er sich von den Geschwistern. Die hatten von der Mutter die flammendroten Locken geerbt, während bei ihm das Wikingererbe durchschlug.
Nicht, dass das bei Valkan eine Rolle gespielt hätte. Er zog Valerian wie einen Sohn auf, ließ sich auch vom aufbrausenden Temperament nicht beirren. »Dein Vater starb vor deiner Geburt«, sagte er häufig. »Dieser Wesenszug ist das Einzige, was dir von ihm geblieben ist. Nutze dein Erbe, du hast das rastlose Wesen eines Nordmannes, vielleicht bist du irgendwann dankbar dafür.«
»Der Tag wird nie kommen«, murmelte Valerian bei der Erinnerung, wusste, dass sein Ziehvater es gut meinte, ihn liebte, wie er war. »Wenn ich nur dazu in der Lage wäre!« Wehmut überkam ihn beim Anblick des Spiegelbildes. Hastig wandte er die Augen zum dunkler werdenden Firmament und versuchte, sich an der Schönheit zu erfreuen. Wie Diamantsplitter auf nachtschwarzem Samt glitzerten zahllose Sterne, lockten verführerisch. Zu gern stiege er als Drache in den Himmel auf. Der Flug und die damit verbundene Freiheit würden die Kälte aus den Gliedern vertreiben und das Herzfeuer neu entfachen.
Die Atemluft gefror. Raureifnebel sank funkelnd aufs Wasser und vereiste einen kleinen Umkreis.
Schaudernd bemerkte Valerian die Veränderung, fürchtete, das Erlöschen seines Herzfeuers ließe ihn irgendwann zum Eisdrachen erstarren. Entschlossen klammerte er sich an den Gedanken an seine Familie, deren Liebe. Sein Name erinnerte an Valkans erschlagene Gefährtin Valeria. Der Drache hatte von Anfang an verdeutlicht, dass er den Erstgeborenen trotz der Herkunft annahm. Das liebevolle Band heizte den Puls an, die frostigen Wolken flohen vor der inneren Wärme.
Valerian seufzte, schalt sich für das Gejammere. Im Vergleich zu seinen Eltern lebte er unbekümmert, hatte weder den Verlust der Liebsten wie sein Ziehvater ertragen müssen, noch den langen Winter, in den Fenja hineingeboren wurde. Nachdenklich tauchte der blonde Riese die Füße in den See. Während er an die Leute dachte, die vor Äonen Valkans erste Familie niedermetzelten, bildeten sich Blasen um seine Beine. Als ein Fisch bäuchlings auftauchte, zog er hastig die Knie an, umschlang diese mit den Armen und lehnte das Kinn darauf.
»Es ist nicht leicht, ein halber Drache zu sein!« Manchmal wünschte er, nur das Erbe seines leiblichen Vaters erhalten zu haben, sterblich, menschlich, vergänglich; inzwischen zu Staub zerfallen. Ein besseres Schicksal, als ewige Flucht, ein Leben im Verborgenen, nie frei zu sein – vor allem, niemals die verwandte Seele und die Liebe zu finden.
Vor Trauer verschwamm die Sicht.
Ein letztes Mal blickte Valerian über den See und verdrängte die Sehnsucht, die Schwingen zu strecken, im Aufwind zu kreisen, der ungezügelten Drachenseite nachzugeben.
Wie lang ist es her?
Monate!, antwortete er tonlos.
Es ist dunkel, vermutlich bliebe ich unentdeckt.
Fände ich dann die Kraft, meine menschliche Seite wiederzufinden? Was bindet mich daran?
Eilig trat er den Heimweg an. Beim Wagen kleidete er sich langsam an und spürte den Druck der Kleidung unangenehm auf der Haut. Der Schmerz durch die unterdrückte Verwandlung nahm zu, irgendwann würde ihm nachgegeben werden müssen.
»Nicht heute!«
Ein letztes Mal schaute Valerian zurück, sah durchs Blattwerk einen silbernen Mond, dessen Zwilling im See zu schwimmen schien, bestieg den Porsche Panamera und verdrängte nachdrücklich die lästigen Gedanken mit dem Starten des Motors.
Wann immer die vierhundertvierzig Pferdestärken angaloppierten, vergaß er alle Wehmut. Er drückte aufs Gas, ohne Geschwindigkeitsbegrenzungen Beachtung beizumessen. Zu seinem Erbe gehörte eine außergewöhnliche Reaktionsgeschwindigkeit, und als Anwalt fände er Mittel, einem etwaigen Führerscheinentzug entgegenzuwirken.
Die Landschaft wischte vorbei, Bäume, Sträucher, Verkehrsschilder. Den Weg kannte Valerian mit geschlossenen Augen. Er blies die Nasenflügel auf und atmete die Nachtluft genüsslich ein. Außerhalb der Stadt wirkte diese belebend. Im Großstadtmoloch erdrückte der Smog. Doch das Leben war dort einfacher, ein Untertauchen in Anonymität praktisch vorprogrammiert. Solange man sich nicht als Drache outet!
Schlagartig fing er den scharfen Geruch von Furcht auf, trat automatisch aufs Bremspedal und brachte den schlingernden Wagen auf einer Brücke zum Stehen. Hektisch katapultierte der Riese aus dem Fahrersitz, verwandelte sich ohne Nachdenken, schwang im Gleitflug über das Brückengeländer und entriss den stürzenden Körper dem tödlichen Fall.
Der Mensch strampelte und wehrte sich.