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Autoren-Adventskalender 2024

Für den diesjährigen Autoren-Adventskalender habe ich eine Kurzgeschichte als Special zu »Mittsommerlegende: Mit Zimt und Tiger« geschrieben. Die Bücher der Reihe können unabhängig gelesen werden. 

Cover Mittsommerlegende Mit Zimt und Tiger

Glücksbotin mit blonden Locken

 

Die Düfte von gebrannten Mandeln, Grillwurst und Glühwein vereinigten sich zu einer unheiligen Allianz, die über Mischa hinweg schwappte. Weihnachtsmusik, Stimmengewirr und rempelnde Menschen. Eigentlich war er nur hier, weil Kieran der kleinen Enid versprochen hatte, mit ihr zum Striezelmarkt zu fahren. Jo begleitete sie aus Freude an diesem ganzen Weihnachtsbrimborium. 
Typisch Mensch, dachte Mischa und biss sich auf die Unterlippe. Er war ein Bärenwandler, Enid und Kieran konnten die Gestalt von Wölfen annehmen. Und sie alle waren eine Familie, verbunden durch Zuneigung statt Blut.
Wie er darauf kam, einen der besucherstärksten Weihnachtsmärkte besuchen zu wollen, obwohl Wolfswandler Menschenansammlungen meist mieden, war Mischa ein Rätsel. Er packte Enid fester an der Hand, sie lachte ihn an und schien tatsächlich Spaß an dem Trubel zu haben. Kieran dagegen sah leichenblass aus. Jo winkte kurz und schob den größeren Mann zwischen zwei Ständen hindurch, um ihn aus der Menschenmenge zu befördern.
»Komm, Onkel Mischa«, sagte die zehnjährige Enid.
»Sollten wir nicht besser hier warten?«
»Wir sind zurück, bevor jemand merkt, dass wir weg waren.« Mit erstaunlicher Kraft zerrte sie ihn hinter sich her.
Zur Sicherheit prägte er sich die nächstgelegenen Marktstände ein, falls sie sich verlören, könnte er auch anrufen. Für einen Moment zögerte er, doch die Kleine drehte sich um und rief: »Schnell, wir sind gleich da!«
Abrupt stoppte sie und deutete auf etwas, das unmöglich auf dem Weihnachtsmarkt stehen konnte. Niemand käme auf die Idee, eine Bude, die wie Baba Jagas Hexenhütte aussah, hier aufzubauen. Ihm fiel auf, dass die Leute einfach darunter hindurchliefen und dem einzelnen Hühnerbein, auf dem es stand, auswichen. Hastig hob er das Mädchen hoch, presste es an sich und wollte fliehen.
»Keine Angst, Onkel Mischa. Wir werden erwartet.«
Zur Bestätigung wurde eine Strickleiter herabgelassen.
»Komm zu mir, Töchterchen«, erklang eine lockende Stimme.
Ein eiskalter Schauer rann seinen Rücken hinab, seine Glieder bebten und gehorchten ihm nicht mehr.
»Wir müssen Großmütterchen besuchen«, sagte Enid.
»Sie ist eine Hexe.«
»Eine Zauberfrau«, widersprach das Kind. »Schnell, bevor sie weiterzieht. Dies ist unsere einzige Gelegenheit.« Als er weiterhin zögerte, legte sie eine Hand auf seine Wange. »Sofort!«
Seine Füße folgten dem Befehl, ohne dass er ihnen Einhalt zu gebieten vermochte. Umsonst versuchte er, das Mädchen abzusetzen.
»Wir beide müssen zu ihr gehen, Onkel Mischa!«, erklärte es ruhig.
Mit Enid auf dem Arm kletterte er nach oben und stieg durch die offene Bodenluke. Das Innere sah viel geräumiger aus als es von außen schien. Gewienerte Bretter, ein Tisch, ein Bett, Regale und Kräutersträußchen, die von der niedrigen Decke hingen und aromatische Düfte verbreiteten.
»Tretet ein, bringt Glück herein.« Ein leises Kichern erklang. »Töchterchen, komm zu mir.«
Instinktiv drückte Mischa das Kind fester an sich und musterte die Alte. Sie wirkte nicht so furchterregend wie ihr Ruf. Ihr schlohweißes Haar trug sie geflochten wie eine Krone auf dem Kopf. Das lange weiße Kleid umwehte ihre zierliche Gestalt wie Schleier.
»Großmütterchen«, sagte Enid und wand sich, bis Mischa sie auf den Boden setzte.
»Hast du ihn?«, erkundigte sich die Hexe.
Das Kind streckte die Hand aus. Auf seiner Handfläche lag ein dunkelrot glimmender Stein.
»Ein Blutstein aus der Anderswelt.« Die Alte schoss vor und griff nach daumennagelgroßen Juwel, ballte die Faust darum und lachte. »Du hast ihn bekommen. Für manche wäre er das Wertvollste, das überhaupt existiert. Dein Onkel Kieran hätte alles dafür gegeben, denn dieser winzige Edelstein hätte ihn aus der Finsternis befreit.«
»Er ist bereits frei«, erwiderte Enid. Sie drückte den Rücken durch und reckte das Kinn in die Höhe. »Dieses Kleinod war nie für ihn bestimmt.« 
»Was für ein Glück für mich.« Das Weib wirbelte herum wie ein Derwisch. Die Schleier umwehten sie wie Nebel. Fast erwartete Mischa, dass sie sich verwandelte.
»Ich danke dir, Kind. Bist du sicher, dass du dir nichts anderes wünschst?« Sie ging zu einem Regal und nahm ein faustgroßes, über und über mit Edelsteinen besetztes Ei vom obersten Brett. »Möchtest du es wirklich?«
Enid ergriff es und streichelte mit den Fingerspitzen darüber. »Koscheis Tod.«
»Und sein Leben«, versetzte die Alte. »Es besitzt Macht. Glück bringt es jedoch nie.«
Das Mädchen steckte das Schmuckei in seine Jacke. »Das werden wir sehen. Ich danke dir, Baba Jaga.«
»Es war mir eine Freude.« Die Greisin bückte sich und strich durch seine blonden Locken. 
»Leb wohl, Großmütterchen.«
»Sei achtsam mit deinen Wünschen.«
»Es ist Weihnachten, die beste Zeit, um andere glücklich zu machen. Der Stein wird deinem Freund ein Leben im Licht ermöglichen. Und das Ei …« Ihr Blick wanderte zu Mischa. Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Lass uns gehen!«
Fröstelnd zog er die Schultern zusammen, hob Enid hoch und stieg vorsichtig die Strickleiter hinab. Zwei Betrunkene rempelten ihn an und lenkten ihn ab. Als er zurückblickte, war die Hütte verschwunden.
Enid küsste seine Wange. »Jetzt wird alles gut, Onkel Mischa.« Aus der Jacke beförderte sie das edelsteinbesetzte Ei hervor und reichte es ihm. »Pass gut darauf auf. Dein Glück hängt davon ab.«
Unsicher schloss er die Hand um das kühle Metall, unter seinen Fingern schien es sich zu erwärmen.
»Dort entlang.« Sie dirigierte ihn zielsicher durch die Menge.
Last Christmas hallte es von der nächsten Bude, er beeilte sich, weiterzugehen. An einem Stand bat sie ihn, einen Nussknacker zu kaufen, und schwenkte ihn wie eine Trophäe, als Jo und Kieran in Sicht kamen.
»Ich kann allein laufen!«, bestimmte sie und begrüßte ihre Onkel mit einem vorwurfsvollen: »Endlich. Wo wart ihr denn?«
»Mir war ein bisschen schlecht«, erklärte Jo und deutete auf die Holzfigur. »Was hast du denn da?«
»Der ist für Papa Botho.«
»Na, da wird er sich freuen«, erwiderte Kieran und schaute Mischa besorgt an. »Alles in Ordnung?«
»Ja, nur ...« Er zeigte seine knallige Version eines Fabergé-Eis.
»Lass es nicht fallen«, ermahnte ihn Enid streng. »Das ist das Wertvollste, was du je besitzen wirst.«
Er rümpfte die Nase. »Das sind echt finstere Aussichten, Enid. Was soll an diesem Ding wertvoll sein?«
Sie reckte sich, legte beide Hände um seine und schloss sie fest um das Schmuckstück. »Du wirst es verstehen, wenn es so weit ist.«
An ihrer Aussage zweifelte er, ein anderer Anblick wärmte ihn jedoch von innen.
Sie bat: »Trägst du mich, Onkel Kieran?«
Auf dem Gesicht des großen, dunkelhaarigen Mannes breitete sich ein seliges Lächeln aus, als sie sich an ihn schmiegte. So wirkte Enid auf jeden von ihnen, egal ob auf ihre Väter oder Onkel. Sie verband die unterschiedlichsten Wesen zu einer Familie und benötigte dazu nur den ihr eigenen Zauber: ihr Lachen und die Liebe, mit der sie die Herzen füllte.

Und vielleicht noch ein Ei. Aber das ist eine andere Geschichte …

© 2024 Sabine Reifenstahl

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Enid

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Mischa

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Kieran

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Jo

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