Wer sich Dunkelheit wünscht
Hüte dich vor deinen Fantasien! Eine Dark-Romance-Autorin erlebt, worüber sie sonst nur fabuliert. Und so viel sei gesagt: Es gefällt ihr nicht.
Seelenverwandte!
Das dachte ich zumindest beim Lesen ihrer Bücher. Sie beschrieb so lebendig, wie sich ihre Protagonisten fühlen, wie sie sich nach kurzer Verwirrung öffnen und bei jeder Berührung erbeben. Ein Spiel der Lust, das unweigerlich zum Happy End führt. In ihren Romanen.
Jetzt liegt die Autorin vor mir und erinnert stark an ihre Figuren im Moment der Erkenntnis. Ihre Augen quellen vor Angst weit genug heraus, um sie mit einem Teelöffel abzuschlagen. Ohne den Ballknebel würde sie um Gnade winseln. Dabei halte ich mich haarklein an ihre Erzählungen, in denen sie das Glück auf Erden für alle Beteiligten verspricht. Sie lässt ihre Hauptpersonen entführen, schlagen, vergewaltigen, sie zwingt ihnen Höhepunkte auf und nötigt sie zu absonderlichen Dingen. Dennoch erliegen die Opfer dem Charme ihrer Gegenspieler und retten sie sogar.
Gerettet werden will ich nicht; meine Vorlieben sind obsessiv. Seit ich zum ersten Mal in die Welt der düsteren Begierden eintauchte, komme ich nicht mehr davon los. Gleich einer Sucht lese ich Geschichten wie die von Lorena Dark. Oft mehrfach. Und versuche, ihre Fantasien nachzuleben.
Meine Gespielen wehren sich, drohen, betteln, resignieren, aber sie verlieben sich nicht in mich, wie die Schriftstellerinnen es versprechen. Obwohl ich genauso umwerfend aussehe wie ihre Romanhelden und ein leichtes Spiel habe beim Kennenlernen.
Lorena erweist sich als ausgewachsene Enttäuschung. Sie möchte nicht mit mir teilen, womit sie so unwiderstehlich lockt. Behauptet plötzlich, ihre Plots seien unrealistisch und reine Erfindung. Warum verkaufen sich ihre Hirngespinste dann wie geschnitten Brot? Wieso lechzen ihre Fans nach Fortsetzungen? Ihre Figuren, je nach Pseudonym Zauberwesen, Männer, Frauen oder was sonst noch, werden misshandelt, unterdrückt und ausgenutzt. Und finden Gefallen daran. Was stimmt also nicht mit ihr? – Die Realität holt uns ähnlich grausam ein wie bei ihren Vorgängerinnen.
»Hast du wirklich geglaubt, sie wäre anders, Alex?« Minette lümmelt in ihrem Sessel und zwinkert mir amüsiert zu. Die langen Beine presst sie aneinander, um dem Laptop auf ihren Knien eine Auflage zu bieten. Das Klappern der Tastatur untermalt ihre Worte melodisch. »Diese Damen wissen nicht, wovon sie fabulieren. Mir wäre es zu langweilig, gefesselt dazuliegen und darauf zu warten, was mit mir geschieht. Deshalb berichte ich aus unserer Perspektive. Ist auch realistischer.«
Das mag sein, aber ich weiß, was ich fühle und ziehe Schilderungen aus der Sicht der Gegenseite vor. Ein kleiner Wermutstropfen, trotzdem bin ich gern mit Minette zusammen. Ihre ausgefallenen Vorlieben eroberten mein Herz mit der Gewalt einer Dampfwalze. Gemeinsam probierten wir sie aus, und sie begann, darüber zu schreiben. Dark Romance, wobei der romantische Teil ausschließlich ihrer Fantasie entspringt.
Ihr neuester Roman handelt von einer Autorin namens Lenora Dark, die von einem Pärchen entführt wird, um ihre Werke nachzuspielen.
Zu dick aufgetragen? Ich nenne es Ironie des Lebens. Wer sich Dunkelheit wünscht, dem begegnet sie womöglich.
© 2024 Sabine Reifenstahl
Mit der Geschichte bewarb ich mich erfolgreich beim Bubenreuther Literaturwettbewerb 2024.