
Grüner Schleim und Schnulzenromane
Kieran versteckt sich in seiner Bibliothek vor dem Halloween-Brimborium. Eigentlich will er einen ruhigen Abend verbringen, doch die Anderswelt hat andere Pläne.
Auch in dieser Geschichte kommen die Begriffe aus der Challenge von Antonia Sandmann vor:
- 5 Eimer grüner Schleim
- Brause-Ufos
- Reißzahn
- Nacktschnecke
- ein Stück Käsesahne
Grüner Schleim und Schnulzenromane
Kieran zog die schweren Vorhänge vor den Fenstern seiner Bibliothek zu. Samhain – ein gefährlicher Tag für einen Sidhe wie ihn. Die Schleier zwischen den Welten wurden dünner. Ein falscher Schritt, ein Moment der Unachtsamkeit, und er würde unfreiwillig in die Anderswelt zurückgezogen werden.
Ganz so wie vor einer Ewigkeit, als er sich in die Menschenwelt verirrte. Damals ließ er nichts und niemanden zurück. Hier hatte er eine Familie gefunden: zwei Gefährten, die er liebte, seine Nichte Enid und einen wilden Haufen von Zauberwesen, die er furchtbar vermissen würde.
Zwischen den vertrauten Bücherregalen, umgeben von jahrhundertealten Folianten und dem beruhigenden Geruch von Pergament, wollte er die verhängnisvolle Nacht abwarten. Robin und Alessio würden ihm später Gesellschaft leisten. Hier war er sicher.
Ein leises Platschen unterbrach seine Gedanken.
Kieran blickte sich um. Auf seinem antiken Mahagonitisch bildete sich eine Pfütze aus grünem Glibber. Tropfen für Tropfen sickerte er aus den Buchseiten eines alten Grimoires.
»Das ist unmöglich«, murmelte er und trat näher. Das Buch war seit Jahrzehnten versiegelt. Jetzt spuckte es schwallweise eine ekelerregende Substanz aus.
Eilig holte er einen Eimer, einen weiteren, noch einen. Bald hatte er fünf Eimer grünen Schleim aufgefangen, und die schnoddrig-klebrige Pampe ergoss sich weiterhin fröhlich über seinen kostbaren Tisch. Zudem verbreitete das Zeug einen üblen Gestank nach verwesendem Fleisch. Er wagte nicht, es in der Toilette zu entsorgen aus Furcht, was sich danach aus den Kloschüsseln erheben würde. Nein, besser erst sammeln und später irgendwie unschädlich machen.
Kieran griff nach einem Tuch, um den widerlichen See von seinem historischen Rauchtischchen zu putzen, als etwas Rundes in der zähen Masse auftauchte.
Ernsthaft? Fliegende Untertassen, deren Zischen und Sprudeln klang, als würde eine Flotte Brause-Ufos landen.
Die kleinen Süßigkeiten pulsierten wie Miniherzen.
»Nein, nein, nein«, wisperte Kieran und wich zurück.
In der Menschenwelt sollte so etwas nicht passieren. Nicht einmal an diesem verfluchten Halloween, an dem alle herumrannten und nach Süßem bettelten und mit Saurem drohten. Seine halbe Familie beteiligte sich an dem Mumpitz. Alessio und Robin, seine Männer, hatten versprochen, heimlich auf Enid zu achten. Immer wieder passierten seltsame Dinge in ihrer Nähe. Vielleicht hätte er zugeben sollen, dass er an diesem Tag nicht gern allein blieb. Aber alle verließen sich auf ihn, da konnte er keine Schwäche zeigen.
Seine Eckzähne begannen zu schmerzen und zu wachsen – die Wolfswandler-Seite reagierte auf die Magie. Instinktiv fuhr er sich mit der Zunge über den herausfahrenden rechten Reißzahn.
Der grüne Schleimsee waberte und brodelte. Eine dicke schwarze Nacktschnecke, groß wie seine Faust, kämpfte sich heraus. Ihre Oberfläche glänzte ölig, und wo sie den Schleim berührte, bildeten sich Bläschen, als würde er kochen.
Die Schnecke wandte sich ihm zu und glotzte ihn mit menschlichen, eisigblauen Augen an.
Mit rasendem Herzen wich er zurück.
»Du kannst nicht vor mir davonlaufen, Kieran«, rief das unheimliche Vieh. »Die Anderswelt ruft ihre verschollenen Kinder heim.«
Kieran zog fröstelnd die Schultern zusammen. Die Luft in der Bibliothek kühlte schlagartig ab. Die Bücher in den Regalen flüsterten, ihre Seiten raschelten ohne Wind.
»Ich gehöre nicht mehr dorthin«, presste er hervor und bleckte sein Raubtiergebiss. Kacke, das sah bestimmt total behämmert aus. Wieso verlor er plötzlich die Kontrolle? Eigentlich kam sein Wolf nie stückchenweise, sondern ergriff ganz von ihm Besitz.
Die Molluske klimperte mit den Wimpern und stieß ein gurgelndes Geräusch aus. Lachte das dumme Weichtier ihn aus?
»Du bist ein Kind der Anderswelt, ein Sidhe. Obwohl du dich hinter deinem Wolf versteckst, finde ich dich. Und ich will dich! Du sollst Teil meiner Leibgarde werden. Deinen Robin will ich auch. Nur dieses kleine tätowierte Pferdchen …«
In seiner Brust wurde es eng, sein Herz verkrampfte. Leibgarde? Das musste Brigid, die Lichtgöttin, sein. Es galt als Ehre, ihr zu dienen. Doch nur für Dummköpfe, denn niemand aus den Reihen ihrer Elitetruppe durfte jemand anderen lieben als seine Herrin. Sie beanspruchte die Männer mit Haut und Haar. Das wusste er von Samaro und Fionbar, die aus ihren Fängen geflohen waren.
Schleim sickerte aus seinen kostbaren Büchern, aus den Wänden, von der Decke. Überall bildeten sich klebrige Pfützen, in denen je ein Stück Käsesahne schwamm, das im Zeitraffer verfaulte.
In wessen Albtraum hatte sich Kieran verirrt?
Schimmlig-pelziger Flaum wuchs aus den Tortenstücken. Daraus sprossen Tentakel, fette Arme mit Saugnäpfen, die nach seinen Beinen griffen.
Das Lachen war ihm schon lange vergangen. Er war verloren. Die Anderswelt streckte ihre gierigen Krallen nach ihm aus. Gerade in seinem Refugium zerrissen ihre Schleier und die Lichtgöttin verhöhnte ihn mit schauerlichem Gestank und Glibber.
»Lass wenigstens meine Familie in Frieden!«
»Was glaubst du wohl, wie ich auf dich aufmerksam wurde, mein Schöner? Du umgibst dich mit Kerlen, die sich jede Göttin als Elite wünscht. Na ja, zumindest ein paar von ihnen. Deinen Robin, seinen Zwillingsbruder, den Wikinger.«
»Wir stehen unter Morrigans Schutz«, wagte er einen letzten Versuch und schleuderte das Buch, das er eben las, auf die Nacktschnecke. Es war ausgerechnet der neueste Roman von Samaro Le Fay. Nie würde Kieran zugeben, dass er solche Schmonzetten verschlang. Aber allein und ungesehen … Außerdem gestaltete er die Cover, da musste er den Buchinhalt kennen.
Schauderhaftes Gelächter erklang. Um das hübsche Bild von Aljoscha, vor dem ein Bär die Tatzen ausstreckte, waberte die grüne Suppe. Den Bärenwandler auf dem Buchdeckel so zu verschandeln, machte Kieran wütend. Dieser bestialische Gestank biss in die Nase und vernebelte ihm die Sinne. Alles verschwamm um ihn herum, die Realität schien sich aufzulösen und Schwärze trübte seine Sicht.
»Onkel Kiri!«
Eine vertraute Stimme durchschnitt die Dunkelheit. Die Bibliothekstür flog auf und Enid stürmte herein, noch im lächerlichen Hexenkostüm. Ihre Pupillen leuchteten bernsteinfarben im Dämmerlicht und zeigten ihre Wolfsnatur.
»Schluss jetzt!«, fauchte sie.
»Ein kleines Wandelwolfmädchen«, rief die Kreatur und kicherte gehässig. »Was willst du schon ausrichten?«
»Das hier.« Enid hob die Hand, malte einen komplexen Kreis in die Luft und schleuderte ihn mit einer entschlossenen Geste.
Goldenes Licht erstrahlte, warm wie die Sonne an diesem Herbsttag, bevor die Nacht kam. Die Tentakel wichen ruckartig zurück, der grüne Schleim verdampfte zischend und die Brause-Ufos zerplatzten wie Ballons.
»Unmöglich«, schrie die Schnecke. »Du bist nur ein Kind!«
»Liebe Grüße von der Morrigan. Wir stehen unter ihrem Schutz und du lässt deine Finger von meinen Papas und Onkeln.«
Das schwarze Weichtier kreischte und löste sich in Rauch auf. Die Schleier schlossen sich mit einem hörbaren Knacken.
Kieran lehnte sich zurück und schnappte sich Bannherz und Honigseele, sein persönliches, signiertes Exemplar. Nichts deutete mehr auf die Schleimattacke hin.
»Du hast mich gerettet, Süße.« Mehrmals atmete er ein und aus und besann sich auf seine dominante Seite, mit der er seiner Familie Sicherheit schenkte. Wie ein Häufchen Elend zu zittern konnte er sich nicht leisten. »Solltest du nicht mit deinen kleinen Cousins um die Häuser ziehen?«, fragte er streng.
»Wenn mein Lieblingsonkel entführt wird?« Enid schüttelte den Kopf so heftig, dass ihre blonden Locken flogen.
Dieses Mädchen besaß mehr Autorität als viele Anführer und machte selbst einem Dom wie ihm Konkurrenz. Herrschsüchtig stemmte es die Hände in die Seiten. »Das kann die olle Schranze knicken! Die soll sich ihre Leibgarde woanders suchen, ihr gehört der Morrigan. Sie hat mich hergebracht und mir geholfen, unauffällig. Weil Götter nicht offiziell gegeneinander antreten dürfen.«
»Wir sollten deinen Papas Bescheid geben, bevor sie sich Sorgen machen, wohin du verschwunden bist.«
»Nö, den Rest des Abends gibt sich Meridur für mich aus und sammelt Süßigkeiten. Unser Gestaltwandler hat ohnehin mehr Spaß an diesen Kinkerlitzchen. Wir beide machen es uns hier gemütlich, Onkel Kiri.«
Widerspruch zwecklos, Kieran wollte es auch nicht anders. In seiner Brust breitete sich Wärme aus. Einladend klopfte er auf seine Oberschenkel. »Alles, was du möchtest, kleines Wölfchen.«
»Du könntest mir etwas vorlesen.« Sie tippte auf das Taschenbuch auf dem Tisch. »Onkel Joschka sieht niedlich aus auf dem Bild, aber ihr sagt doch immer, wir dürfen niemandem zeigen, wer wir sind. Und dann malst du ihn und seine Bärengestalt und Onkel Samo schreibt eine Geschichte dazu?«
»Das haben wir dir erklärt, Enni. Alle halten das für hübsche Fantasyromanzen. Es sei denn, jemand kennt die Wahrheit und schlussfolgert, dass wir sind wie er. So hoffen wir, andere einsame Seelen aus der Anderswelt zu finden, um ihnen zu helfen.«
»Oder ihr weckt Begehrlichkeiten bei der Lichtgöttin. Was, wenn sie herausfindet, dass ihr Abtrünniger das hier verfasst und versucht, Samaro und Fionbar zurückzuholen?«
Heimlich seufzte Kieran. Für ihre zwölf Jahre verhielt sie sich viel zu erwachsen. »Ich glaub nicht, dass Brigid Bücher aus dieser Welt liest. Die sind übrigens auch noch nichts für dich. Stattdessen kann ich dir von den Sidhe erzählen.«
»Oh bitte, erzähl von den Schreienden Feen.«
»Du bist ein blutrünstiges kleines Ding«, erwiderte er lachend. »Verrätst du mir, wie du das eben gemacht hast?«
»Das war die Morrigan.« Ihre Augen flackerten leicht. Lügen konnte das Mädchen nicht, zaubern offenbar schon.
Später würde Kieran mit ihren Vätern reden müssen. Nichts, worauf er sich freute. Ebenso wenig wie zu gestehen, dass die Lichtgöttin ebenfalls auf sie aufmerksam geworden war. Doch damit wollte er das Kind nicht beunruhigen.
Enid kletterte auf seinen Schoß. »Keine Angst, Onkel Kiri, ich beschütze dich!« Sie umarmte ihn fest. »Nächstes Jahr gehst du mit zum Süßigkeitensammeln. Das ist sicherer, als allein hier herumzusitzen.«
Kieran lächelte schwach. »Vielleicht hast du recht, kleine Hexe.« Der traurige Ton bei ihren Worten gefiel ihm nicht. Schaudernd zog er sie näher an seine Brust. »Wir machen das zusammen, Liebes!«
»Erzähl mir von Onkel Maeron und den bösen Männern, die ihr vertrieben habt«, bat sie, um ihn abzulenken.
Die Geschichte aus Bannherz und Honigseele eignete sich nur bedingt für ein Kind. Eine andere aus dem Buch schon. »Ich kann dir erzählen, wie Meridur sich in eine Schlange verwandelt und einen Freund gerettet hat.«
Ihre Lippen kräuselten sich. »Ja bitte, Onkel Kiri.« Nach einer kurzen Pause fügte sie leise hinzu: »Kannst du machen, dass wir dieses Weihnachten alle zusammen feiern? Auch mit meinen nervigen Cousins und Tante Melli.«
Versonnen seufzte Kieran, denn daran arbeitete er bereits. »Ich verspreche es dir, Enni. Du bekommst ein Weihnachten, wie du es nie vergisst.«
Weihnachten geht es weiter, denn Antonia Sandmann veranstaltet wieder ihren Adventskalender.
© Sabine Reifenstahl 2025




