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Göttin des Krieges

Exklusiv gewähre ich einen Einblick auf Enyo und den Grund, warum sie sich so sehr vor ihrer zweiten Seite fürchtet.
(Die Szene schaffte es dennoch nicht ins Buch.)

Vom Gebirgskamm aus musterte die Dunkle Göttin den in Flammen stehenden Ort am Ufer des Nestos. Der Blick schweifte zum einzigen Zugang, den dicke Tore sicherten, dann über schroffe Berghänge hinweg. All das machte Limēn uneinnehmbar, schützte jedoch nicht vor der gnadenlosen Unsterblichen.
     Die Brände verschlangen die Stadt von der äußeren Ringstraße her in Richtung meerblauer Mitte. Eine undurchdringliche Mauer aus brüllender Vernichtung unter einem orangeroten, von schwarzen Rauchschwaden verhangenen Himmel.
Die Hitze trieb eine Überlebende zum zentralen Platz, dem unabwendbaren Ende entgegen.
Mitleidlos betrachtete die Zerstörerin ihr Werk, verzog keine Miene, als aus einem Haus eine Gestalt taumelte und sich auf dem Boden wälzte, um die lichterloh brennenden Kleider zu löschen.
     Enyos Mundwinkel zuckten nach unten. Mit Augen, die an Glutstücke erinnerten, musterte sie den größten Gebäudekomplex, ihre Heimstatt. 
     Dreigeschossige, weißgeputzte Bauten mit roten Dächern begrenzten den weiträumigen Innenhof. Die Feuerwalze überrollte ihr Zuhause. Lebendig geworden, stürzte sich das Flammentier auf die dort Schutz suchenden Wesen.
Gleich einem Megafon verstärkte der Talkessel die Todesschreie. Ohrenbetäubender Lärm drohte, die Trommelfelle zu bersten. Als todbringende Kuppel schlug die Lohe über der Agora zusammen, verbrannte die wenigen, die in Enyos weißem Rundtempel um Gnade flehten.
     Eine Kakofonie aus Schmerz und Zerstörung ließ die Luft beben, vermochte jedoch nicht, das Herz der
Dunklen Göttin zu erweichen. Vor dem Gestank der Vernichtung rümpfte sie die Nase und hob die Arme.
     Das Feuermonstrum wuchs zur prasselnden himmelhohen Säule, die jede Erinnerung an die Ansiedlung, deren Name Zuflucht bedeutete, auslöschte. Das Refugium der Schutzbedürftigen wurde von seiner Schöpferin zerstört.
     Der von der Hitze angefachte Sturm zerrte an Enyos kurzem Chiton. Mit regloser Miene wandte die Kriegsgöttin der Heimat den Rücken zu und betrachtete die Armee jenseits der schützenden Berghänge, die vor dem einzigen Zugang zur Stadt lagerte.
     Ein sinnloses Unterfangen! Niemand konnte sie aufhalten! Zuerst nahm sie den Bewohnern die Hoffnung - den Glauben an ihre Göttin und Schutzpatronin Enyo. Dann das Zuhause, alles, was sie liebten. Schlussendlich das Leben. Die Wehrlosen starben in den Flammen, die Wehrhaften würden bald folgen. Bemüht, das äußere Tor zu verteidigen, mussten sie hilflos der Vernichtung zuschauen und harrten jetzt des letzten Kampfes.
     Schwarzer Rauch wirbelte auf, als die Unsterbliche den Hang hinab schritt. Beim Anblick ihres Rappen Daimon kehrte einen Lidschlag lang Farbe und Leben in die Iris zurück, goldene Splitter blitzten im Braun auf. Sehnsüchtig streckte Enyo die Hand nach dem tierischen Freund aus. Er wich panisch vor ihr zurück, als unter ihrer Haut erneut dunkle Schwaden aufwirbelten und ihre Augen glutrot aufleuchteten.
     Am Tier vorbei fixierte sie den vordersten Reiter, Ares, der griechische Kriegsgott, Befehlshaber der Verteidigungstruppe, ihren Ziehvater. Sein bleiches Antlitz war vor Gram erstarrt und ähnelte einer Totenmaske. Nicht der bevorstehende Kampf entsetzte ihn. Enyo wusste, er schreckte vor dem Monster zurück, in das sie sich verwandelt hatte.
     Niemand hätte je für möglich gehalten, was aus ihr würde, dass der Tod des Gefährten ihre Seele raubte, und sie zum Ungeheuer werden ließ. Keiner kannte die tiefe Verbundenheit, die ausgleichende Wirkung des Geliebten.
     Warg! Sein Name rief Erinnerungen wach.
     Verbissen presste Enyo die Lippen zusammen und ballte die Fäuste, bis Blut von den aufgerissenen Handflächen rann. Einer hatte es gewusst! Er weckte mit dem Mord an Warg die Dunkle Göttin, entfesselte das weltenverschlingende Ungetüm.
     Die Gedanken verschwammen, wurden undeutlich, als überlagerten Dunstschwaden sie. Allein die Gegenwart zählte, Enyo musste ihrer Bestimmung folgen, dem Sinn ihrer Existenz. Gefühle bedeuteten Schwäche, und nie wieder würde sie schwach sein.
Mit glühendem Blick erfasste sie die gedrungene Gestalt links von Ares, bemerkte Tränen.
Onkel Hephaistos, begnadetster aller Schmiede – bitte weine nicht! Die Erinnerung an seine Zuneigung verblasste so schnell, wie sie kam.
     Hinter den Göttern stand Limēns Kriegerelite: Die von Enyo rekrutierten und ausgebildeten Wölfe. Das Entsetzen verzerrte ihre Gesichter, dennoch wichen sie keinen Fußbreit zurück. Dem Mut zollte sie mit einem Nicken Respekt, stieß ihren markerschütternden Kriegsschrei aus und stürzte sich auf die Gegner.
Dunkelheit folgte ihren Spuren, als das Schwert die Beine der vordersten Rosse durchtrennte, mühelos wie eine Sense reifes Getreide.
     Schrill wiehernd fiel der riesige schwarze Hengst vornüber, warf seinen Reiter ab.
Die Kriegsgöttin wartete, bis Ares sich aufrappelte und angriff. Ihr Dolch zuckte nach oben, parierte den halbherzig geführten Hieb, während die geschliffene Schwertklinge durch den stiernackigen Hals schnitt.
     Das Haupt des Kriegsgottes rollte in den Sand. Schwarzes Haar floss über den Boden. Augen starrten leer in den Himmel.
Im gleichen Schwung führte die Vernichterin einen Rückhandhieb, der den bulligen Schmiedegott halbierte. Entzweigehauen von der von ihm geschaffenen Waffe blutete er seine Unsterblichkeit in den Staub.
     Ein Pfeil traf Enyos anthrazitfarbenen Leinenpanzer und wurde flüchtig fortgewischt. Die unzertrennlichen Zwillinge Kastor und Polydeukes, früher ihre besten Freunde, schickte sie mit einem einzigen Streich in den gemeinsamen Tod.
     Ungeachtet der Aussichtslosigkeit trotzte die Elitetruppe Enyo. Die Männer und Frauen hatten alles verloren, Heimat und Familie. Schlimmer noch, die Herrin, der sie treu dienten, war zur Mörderin geworden. In den Mienen stand mehr Trauer als Verachtung oder Zorn.
     Aus den Fußabdrücken der
Dunklen Göttin kräuselte ätzender Rauch empor. Keine Gnade. Kein Gewissen. Nur Tod!
     Schwarz gekleidete Krieger stürmten heran, heulend wie Wölfe. Das Gemetzel begann. Schnelle Schritte, Drehungen, Wirbel. Die Klingen der Zerstörerin zischten durch die Luft. Unbarmherzig tanzte sie einen Reigen aus spritzendem Blut und herumfliegenden Gliedmaßen. Niemand vermochte sie aufzuhalten, keiner zu widerstehen.
Enyo tötete alle.
     Mit einem letzten Blick auf die hingestreckten Leiber der Wolfskrieger wandte die Unsterbliche sich nach Westen, schickte Tod und Verderben über die Menschheit, zerstörte Städte, verbrannte Häuser.
     Wohin sie trat, folgte das Chaos. Flammen schossen aus den Rauchschwaden empor, die sie verströmte. Ihr Erscheinen brachte Dunkelheit und Vergessen.
Städte, Tiere und Menschen brannten.
     Nichts davon berührte sie. Die Gefühle, die sie einst ausmachten, die den Einwohnern ihrer Siedlung Hoffnung schenkten, waren mit dem Liebsten gestorben.
     Gleichzeitig Gründerin und Vernichterin von Limēn, stand sie bei Tagesanbruch wieder auf dem Bergkamm und betrachtete die schwelenden Reste der einstigen Heimat.
     Ein Gedanke schuf ein Portal, und Enyo wechselte in die nächste Welt, um Tod und Verdammnis zu bringen.


© 2023 Sabine Reifenstahl

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