»Verflucht« (Leseprobe aus »Nachtwesen und Schattengeschöpfe«
»Verflucht« ist eine Nebengeschichte zu meinem Roman »Dunkelheit und Silberglanz«. Sie erzählt vom jungen Erik, einer Hexe und einem Fluch.
Warg ist eine meiner Hauptfiguren. Im Buch deute ich seine Vergangenheit nur an.
In einer zweiten Geschichte, »Erweckung«, begegnen sich Warg und Enyo. Nachzulesen in »Die fünfte Welt«.
Unwillig löffelte Erik die dünne Gemüsesuppe und tunkte das harte Brot hinein, um sich nicht die Zähne daran auszubrechen. Die Ellenbogen auf den grob gezimmerten Eichentisch gestützt, dachte er an den Vortag. Dabei knurrte sein vor Hunger schmerzender Magen so laut, dass der Vater ihn ansah und resigniert die Augen schloss.
Gestern hatten sie ihr einziges Schwein in der Burg abgeliefert, weil die Ernte zu schlecht war, um die Abgaben mit Korn zu tilgen. Wie sie über den Winter kamen, interessierte die Burgherrin nicht, sie ließ sich durch nichts erweichen, von den Forderungen abzusehen.
Im Burghof krochen Erik herrliche Gerüche nach Gebratenem und Gesottenem in die Nase. Den Düften folgend, konnte er durch die offene Küchentür die großen Kessel sehen.
»Dürfte ich nur einmal so etwas Leckeres essen – so lange, bis mir der Bauch wehtut. Alles würde ich dafür tun!«
Bei der Erinnerung zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen und er seufzte. Das köstliche Aroma des kunstfertig zubereiteten Fleisches hing ihm immer noch in der Nase, so intensiv, dass er meinte, es schmecken zu können. Als Reaktion begann er zu würgen und schluckte Galle und Wassersuppe angewidert herunter.
»Hüte dich vor deinen Wünschen«, hatte die blonde Frau ihm geraten und dabei seltsam gegrinst. »Groß bist du geworden, Erik. Und deine Augen!«
Die Aufmerksamkeit der Burgherrin trieb ihn in den Hof zurück. Lange danach raste sein Herz noch. Niemandem erzählte er von der Begegnung. Es hieß, sie sei abgrundtief böse. Doch konnte jemand, der so schön ist, böse sein?
Die Bemerkung schmeichelte ihm. Trotz des steten Nahrungsmangels wuchs er schnell. Eriks Körperbau, meinte Mutter, verspräche bereits die breiten Schultern des Vaters. Wie Jorik würde Erik die meisten überragen.
Das tröstete ein wenig über das andauernde Bauchkneifen hinweg. Bald wäre er alt genug. Dann nähme er eine Stelle in der Burg an und sorgte für die Familie. Ein, zwei Jahre vielleicht, und er könnte mehr tun, als seinen Anteil zum Lebensunterhalt mit Feldarbeit zu leisten. Im Stillen hoffte er darauf, den Hunger hinter sich zu lassen. Was er jetzt neben den Mahlzeiten fand, Sauerampfer, Löwenzahn, Beeren, selten ein paar winzige Vogeleier, füllte den Magen kaum. Satt zu sein erschien ihm wie ein göttliches Geschenk, obwohl er dieses Gefühl nicht kannte.
Traurig betrachtete er die drei Geschwister, denen es noch schlechter ging. Blass und ausgemergelt hockten sie da und löffelten die dünne Brühe. Sein älterer Bruder blickte auf und versuchte zu lächeln. Dabei entblößte er mehrere Zahnlücken. Wie krank er aussah, fast wie die beiden Schwestern, bevor sie im vergangenen Winter an Unterernährung und Schwäche starben. Der Dauerregen hatte die Äcker überflutet und das Getreide ertränkt. Schaudernd fragte sich Erik, wer im nächsten Frühjahr noch an diesem Tisch säße. Zu überleben wurde immer schwerer.
»Während wir hier darben und verrecken, feiert die Burgherrin Feste! Die Köter dort leben besser als wir«, murmelte Jorik.
»Schscht!«, machte Mutter und sah sich furchtsam um.
Lang gezogenes Wolfsheulen ließ alle zusammenfahren.
Vater sprang auf, prüfte die Fensterläden und sicherte die niedrige Eingangstür mit einem Balken.
Das Jaulen kam näher.
Hastig packten Erik und sein älterer Bruder die bereitliegenden Knüttel. Die beiden jüngeren Kinder versteckten sich in den Rockfalten der Mutter. »Wir haben die Abgaben doch pünktlich abgeliefert«, flüsterte sie.
»Das gilt nicht uns!«, erwiderte Jorik mit zittriger Stimme.
Die Ausgestoßenen, deren Wolfsgeheul sie hörten, kontrollierten den Dunkelforst. Nur die Burgleute wagten, dort zu jagen. Das Rudel wuchs rasant und nahm jeden auf, den die Gesellschaft verstieß oder der aus einem anderen Grund flüchten musste. Es kursierten grauenvolle Geschichten vom Fluch, der die Vogelfreien in riesige, behaarte Tierwesen verwandelte. Einige dienten der Burgherrin Frida, die meisten lebten als Warge, Geächtete, im Wald, plünderten die umliegenden Gehöfte und schlugen Wild.
Das Geheul endete abrupt vor der kleinen Kate. Dumpf hämmerte etwas gegen die Brettertür.
»Wer da?«, rief Jorik.
»Gerwald, du Idiot! Mach sofort auf!«
Die rechte Hand der Burgherrin, ihr Hausköter und Vollstrecker, dachte Erik schaudernd und hielt den Knüppel abwehrbereit.
Sein Vater bedeutete ihm mit einer Geste, sich zurückzuhalten, und öffnete die Tür. »Was wünscht Ihr?«
Wortlos stieß Gerwald den Hausherren beiseite und musterte das Hütteninnere. Ein gehässiges Grinsen teilte das lange Gesicht.
Kalte Augen fixierten Erik. Unwillkürlich zuckte er zurück und ahnte Unheil.
»Gute Neuigkeiten, Bauer. Dein verlauster Haufen Ratten verreckt in diesem Winter nicht. Gnädigerweise befreit dich meine Herrin von einem der Bälger. Dafür erhältst du ein Pfund Fleisch und fünf Laibe Brot wöchentlich, solange der Bursche da«, er deutete auf Erik, »sich benimmt.«
»Wir brauchen ihn als Arbeitskraft«, versuchte sein Vater ihn zu schützen.
»Mach dir einen neuen Sohn. Darin seid ihr doch gut, vermehrt euch wie Ungeziefer …«
Als Jorik einen Schritt auf den Eindringling zumachte, grinste er. »Vielleicht gelingt dir ein Treffer. Solltest du mich angreifen, oder ich nur vermuten, dass du das vorhast, töte ich dich, verriegle die Tür und zünde die Hütte mitsamt deiner verlausten Brut an.«
Die Worte veranlassten das Familienoberhaupt dazu, resigniert die Schultern zu senken.
Kopfschüttelnd sagte er: »Tut mir leid, Sohn. Bitte sei gehorsam. Denk an deine Mutter und deine Geschwister. Ich hoffe, du wirst wenigstens mal satt.«
Entsetzt schüttelte Erik den Kopf.
Die Geschichten von der Burgherrin ließen ihn zittern.
Sein Blick erfasste die kleinen Schwestern. Die versprochenen Nahrungsmittel würden ihr Überleben sichern, und sein Bruder bekäme endlich einmal Fleisch.
Immer noch bebend, senkte er die Waffe und legte sie auf den Boden. »Schon gut, Vater. Ob mit deinem Einverständnis oder ohne, was die Herrin will, bekommt sie.«
»Der Bursche hat ja direkt Verstand«, versetzte Gerwald. »Obwohl es mir Vergnügen bereitet hätte, euch zu rösten.«
© 2022 Sabine Reifenstahl