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Carpe diem – Genieße den Augenblick

Trotz seiner unheilbaren Krankheit verlor Mark nie die Hoffnung, und er fordert von seiner Freundin, das Leben zu genießen.

Es duftet nach Efeu und feuchter Erde. Ein Geruch, der an die Endlichkeit des Lebens erinnert.

Wie jeden Sonntag folge ich dem Sandweg und erinnere mich.

Über ein Jahr ist es her, doch ich kann ihn nicht vergessen. Mir fällt ein besonderer Nachmittag ein, während ich vor der kleinen Granitplatte halte. Der Tränenschleier lässt die Inschrift verschwimmen: Mark Richter, 1989 – 2021.

Tröstend legt Niklas mir eine Hand auf die Schulter und lächelt stumm.

»Ich habe deinen Rat befolgt«, flüstere ich und werde von Erinnerungen übermannt. Automatisch denke ich an den Tag, als wir zum letzten Mal gemeinsam im Café saßen.


Im Radio lief eine Reportage. Menschen schwangen herzerweichende Reden darüber, was ihnen durch Corona entgangen war. Ich hörte nicht zu, sondern dachte, sie sollten dankbar dafür sein, was ihnen blieb: Lebenszeit.

 

Seufzend schaue ich zu Niklas auf.

»Lass dir Zeit«, sagt er.


Mir fällt ein, wie Mark die Gäste mit leuchtenden Augen beobachtete. Erstmals seit Langem wagten wir einen Ausflug in unser Lieblingscafé.

Eine junge Frau trat ein und steuerte auf ihn zu, flirtete – und machte abrupt kehrt.

Eilig ging ich zu meinem Mann zurück und sah die mühsam von einem aufgesetzten Schmunzeln kaschierte Enttäuschung.

»Was für ein schöner Tag!«, versuchte ich, ihn aufzuheitern. Wieso musste die Fremde einen überstürzten Rückzieher beim Anblick des Rollstuhls machen? Den kleinen Flirt, einen Anflug von Normalität, hätte ich meinem Liebsten ohne Eifersucht gegönnt.

Als er nach der Kaffeetasse griff, bemerkte ich das Zittern der Hand und legte meine Finger über seine. Angestrengt verbarg ich die aufsteigende Trauer. Dafür erntete ich ein dankbares Lächeln.

Erneut beobachtete ich die lachenden Menschen. Ein Stück Alltag war zurückgekehrt, der Mund-Nasen-Schutz nahm nicht mehr die Sicht auf die Mimik.

Besorgt schaute ich zu Mark. Hundertprozentige Sicherheit existierte nicht. Doch unser Ausflug tat ihm gut. Das rechtfertigte das Risiko.

Vielleicht trug der Abstecher eine Mitschuld an der Infektion, ich kann es nicht sagen. Denn an dem Tag war mein Mann besonders blass. Mir fiel der Tremor auf, der an seine begrenzte Lebenszeit erinnerte. Wie so oft verwünschte ich die Ungerechtigkeit des Schicksals.

Beim Kennenlernen konnte Mark noch gehen und half mir, mich an die neue Lebenssituation zu gewöhnen. Er wurde zu meinem Halt.

Damals, als er mir von seiner Krankheit erzählte, brach die Welt für mich zusammen. Es gab nur einen Moment, der an diese Verzweiflung heranreichte: als ich erfuhr, nach dem Unfall zeitlebens auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein.

»Hör auf zu grübeln und genieße den Augenblick!«

Seine tiefe Stimme riss mich aus den trüben Gedanken, kribbelte im Bauch. Wie mir ihr Klang gefiel, der Ausdruck in den tiefblauen Augen, die sinnlich geschwungenen Lippen …

Krampfhaft schlucke ich. Wie sehr ich dich vermisse! »Ich liebe dich!«, sage ich laut und meine Niklas ebenso wie Mark.


Als hätte er es gewusst, sagte er an dem Nachmittag: »Ich möchte nicht, dass du trauerst. Trage unsere Liebe weiter. Du findest wieder jemanden, mit dem du glücklich wirst.«

»Mark, bitte …!«

»Schon gut. Lass uns den Tag nutzen.«

Mir fielen die mitleidigen Blicke der vorbeigehenden Menschen auf. Für Außenstehende musste sich unser Schicksal ähneln, wir saßen beide im Rollstuhl. Mein Unfall beeinträchtigt die Lebenserwartung kaum, während Muskeldystrophie, diese heimtückische Krankheit, Mark schwächte. Die Monate der erzwungenen Isolation galten für ihn mehr als für die meisten und raubten ihm einen entscheidenden Lebensabschnitt. Corona stahl ihm wertvolle Lebenszeit. Den Optimismus ließ er sich vom Virus jedoch nicht nehmen. Dafür bewunderte ich ihn.

»Hier ist jetzt. Das allein zählt«, sage ich laut und schaue Niklas an. »Ich liebe dich. Und ich bin dankbar, dass du mich angesprochen hast.«

»Genau hier«, versetzt er. »Es hatte angefangen zu regnen. Sollte ich zulassen, dass eine schwangere Frau nass wird?« Zärtlich sieht er in den Kinderwagen.

Ein Teil meines Mannes ist bei mir.

Nie hätte ich gedacht, dass ich zu einer neuen Liebe fähig wäre, schon gar nicht, so bald nach seinem Tod. Allerdings wusste ich um seinen Wunsch und war sicher, er würde es genauso wollen.

Die ungeschickte Art, mit der Niklas mich vor dem Regen zu schützen versuchte, weckte etwas in mir. Wir gingen Kaffee trinken und verabredeten uns für den folgenden Tag.

Es kommt mir wie ein Traum vor.

Wir verstecken uns nicht, obwohl ich das Tuscheln hinter vorgehaltener Hand bemerke. Manchmal fange ich Gesprächsfetzen auf. Die Leute zerreißen sich das Maul darüber, dass ich meinen verstorbenen Mann nicht geliebt haben könne, wenn ich so schnell mit einem anderen zusammen bin. Sie verstehen nicht, dass Mark Teil unseres Lebens bleibt, und sein Kind in einer Familie aufwächst. So, wie er es gewollt hätte.

Meine Gefühle für ihn verschwinden nicht durch das, was mich mit Niklas verbindet, im Gegenteil.

Mit ihm ist alles anders. Nur eines ist beständig: die Liebe.

© 2022 Sabine Reifenstahl

Alle Rechte vorbehalten.



 


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